Armin war schon da und aktiv, bevor die meisten von uns irgendwann dazustießen. Als ich ihn 1984 in Tübingen kennenlernte, hatte er bereits ein Tapelabel, mit seinem Bruder zusammen eine Band (Die Brüder), für das Lautt-Magazin geschrieben, einen Vertrieb und mit dem Banzai ein Fanzine am Start, gegen das mein damaliges Heft wie eine Schülerzeitung aussah. Genau genommen war Armin bereits ein „alter Hase“, hatte Bands gesehen, für die ich zu jung war, er hatte die Mausefalle erlebt und war – im Gegensatz zu manch anderen alten Platzhirschpunks – eben kein Arsch, der Angst um seine Pfründe hatte. Die paar Jahre Vorsprung ließ er zu keiner Zeit heraushängen und begründete seinen Standpunkt auch nie mit dem blanken Altersjoker. Im Gegenteil, er war offen und „supportive“ in jeder Hinsicht. Kritik? In jedem Fall, aber eben auch immer ein konstruktiver Tipp und das Angebot für einen offenen Austausch. „Hier ist der Handschuh, überzeuge mich!“
Ob man seinen Standpunkt letztendlich teilte oder nicht, blieb einem letztendlich selbst überlassen. In jedem Fall waren die persönlichen Diskussionen – so hart sie für manch Außenstehenden bisweilen auch geführt wurden – nahezu immer anregend. Kalt ließen sie einen nicht, und selbst wenn man nicht auf einen gemeinsamen Nenner kam, konnten beide daraus etwas anregendes mitnehmen, um kurz danach auf die unterschiedlichen Positionen anzustoßen, denn Armin nahm sich nicht als Person wichtig, für ihn zählte Haltung, eine gepflegte Diskussion als Anregung und eine eigene Meinung. Dass das Ganze auf Social Media weniger gut funktionierte, weil sich immer jemand ohne Grundkenntnisse oder mit Halbwissen einmischte, war ein später Lernprozess. Die Überspitzung einer Aussage ohne die Mimik des Gegenüber, funktioniert an einer Tastatur nur bedingt und beim eigentlichen Thema bleiben, kann leider auch nicht jede:r.
Kaum jemand machte sich so früh über Dinge und Strukturen der Hardcoreszene Gedanken wie Armin. Andere hinterfragten zu der Zeit vieles noch nicht einmal, ließen sich treiben oder übten fleißig die Selbstzerstörung. Als Mitinitiator des Trust-Fanzines trug er schließlich maßgeblich zur sichtbaren Vernetzung der aufblühenden HC-Szene bei. Der Gedanke dahinter, ein überregionales Heft zu gründen, bei dem nicht nur eine kleine lokale Szene abgebildet wurde, war im Zeitalter vor dem Internet eine der wenigen Möglichkeiten, sich einigermaßen zeitnah auszutauschen, Tourdaten zugänglich zu machen und sich deutschlandweit zu vernetzen. Warum ich die Einladung des süddeutschen Zirkels damals ausgeschlagen habe weiß ich nicht mehr, aber ich nahm die nächste zum konspirativen Zirkel des Plot-Fanzines wahr, dessen Gründung im Hinterhof von Kleisters Scheune in Renningen stattfand. Der letzte Versuch, um den eingeschlagenen Weg der Hardcoreszene „irgendwie“ zu korrigieren oder in andere Bahnen zu lenken, denn was sich abzeichnete, gefiel uns allen irgendwie nicht.
Es gab eine Satzung, eine Absichtserklärung, dass sich das Heft nicht in Konkurrenz zum ZAP oder zum Trust sah, sondern vielmehr als Alternative und wir einigen Leuten explizit nicht ans Bein pinkeln wollten. Es lief dann ohne unser unmittelbares Zutun dann doch etwas anders. Bei der Gründung gab es konstruktive Pläne zur Finanzierung, zum Sampler, zur Erscheinungsweise und Ausrichtung. Releases mit Barcode wurde stiefmütterlich behandelt, und wenn ein Majorlabel wirklich so blöd war, im Plot eine Anzeige schalten zu wollen, wurde ein höherer Seitenpreis fällig, schließlich hatten die genug Geld zur Verfügung. Ins Heft kam nur das, was einen persönlich interessierte, selbst Leserbriefe über zehn(!) DIN A4-Seiten, die wir mit 5-Punkt-Schrift auf 3 ½ schrumpften. Selten, bis ausdrücklich nicht, wurden Bands gefeatured, die gerade tourten oder eine neue Platte am Start hatten, Ausnahmen bestätigten die Regel.
Bereits vor der Nullnummer hatten wir einen Ruf weg. Einen Ruf, den die einen leidenschaftlich feierten, andere zum persönlichen Feindbild erklärten. Irgendwann war es dann auch egal und wir pinkelten großflächig an irgendwelche Beine, was bei der Zusammensetzung der Autoren auch absolut kein Problem war, schließlich konnte sich jeder seine ganz eigene Reizfigur herauspicken. Auch hier war „Meinung“ ein wesentlicher Faktor, außerdem sah das Heft verdammt gut aus.
Von wievielen Menschen kann man sagen, dass sie einen in mehrfacher Hinsicht geprägt haben? Das sind sicher nicht viele. Wenn man die Zeitspanne noch hinzuzieht, in der Armin immer wieder das Ohr auf neue Bands lenkte (fast 40 Jahre lang), fällt mir exakt eine einzige Person ein, und die kam aus Nagold, Verzeihung, aus Wildberg.
Ohne ihn und seine bedingungslose Begeisterung für so viele Bands, die durchaus ansteckend war, wäre mir und vielen anderen wahrscheinlich vieles verschlossen geblieben und der musikalische Horizont definitiv übersichtlicher.
Und wenn Armin von etwas begeistert war, dann mit Leib und Seele. Halbärschig oder „naja, ganz nett“ gab es nicht. Entweder oder, dazwischen lag eine ganze Menge, die ihn aber schlicht und ergreifend nicht interessierte.
Neben etlichen Bands auf seinem eigenen Label, angefangen bei den Cocks in Stained Satin (da lernten wir uns im Epple Haus kennen, noch bevor die Mini LP bei ihm erschien), über die Spermbirds, die Walter 11, Kurt, Yass, Crowd of Isolated, Party Diktator, Hammerhead, Atom and his Package, World/Inferno Friendship Society, Pretty Girls Make Graves, YC-CY, Girls in Synthesis und einigen mehr, hatte er ein begeistertes offenes Ohr, unter anderem für Noise-Rock, Touch & Go, Dischord, frühe Lookout-Releases, Big Black, Shellac, Bikini Kill und einen Sack voll Bands, die mich bis heute immer noch überfordern. Auf X-Mist kam man nicht einfach so mit der Einsendung eines Demo-Tapes und ein paar Referenzen. Was viele andere Label predigen, war der einzige gemeinsame Nenner nahezu aller Veröffentlichungen. „Wir veröffentlichen nur was wir wirklich mögen!“ (… oder aber es verkauft sich gut)
Verkaufszahlen aber waren kein Grund, dass eine Band auf X-Mist veröffentlicht wurde. Es musste menschlich und musikalisch stimmen. Business, das waren die anderen, von denen heute kaum noch ein Label existiert, ganz egal wie dick die damals im Geschäft waren. Mit dem Vertrieb hätte er mitten im Hardcoreboom durchaus andere Wege einschlagen und den nächsten größeren Schritt wagen können. X-Mist hätte damals durchaus das Zeug zu einem Player gehabt wie We Bite, Frontline oder L&F, aber es passierte nicht, weil ihn die Masse schlicht nicht interessierte und er keinen Mist verkaufen wollte, nur um irgendwelche Kredite abzuzahlen. Manches fand bei ihm einfach nicht statt, weil es überall sonst erhältlich und damit die die Mühe nicht wert war.
Wer bei ihm im Laden war oder per Telefon bestellte, was ich gerne tat, denn Nagold war ja nicht gleich um die Ecke, kennt sicher die kleinen Standpauken, die man sich abholen konnte, wenn man statt der neuen Platte, die Armin explizit abfeierte, lieber doch das vierte Auf-Nummer-Sicher-Release einer austauschbaren Band haben wollte, die gerade angesagt war. Manche konnten damit gut umgehen, andere eben nicht. Wenn man sich schließlich auf die dringende Empfehlung einließ, konnte man nicht selten eine neue Spielwiese entdecken. Manchmal war’s für die eigenen Ohren aber auch durchaus mal ungenießbar, aber das war’s wert.
Wenn ihm eine neue Platte nicht gefiel, die er für den Vertrieb gerade reinbekommen hatte, konnte es auch mal einen Verriss hageln, so dass die Scheibe bei ihm im Prinzip unverkäuflich war, das nennt man „konsequent“, andere tippen dann nur den Pressetext ab.
Sein Gespür für Neues, die ungesättigte Neugier nach aufregenden Bands und wirklich originärer Musik, hätten in einer Großstadt sicher einen guten Radio DJ aus ihm gemacht. Mit einem Live-Telefon wäre hier durchaus Potential für eine einzigartige Sendung vorhanden gewesen, aber in Nagold?
Ja, Nagold und Umland, da war doch was. Der Fixpunkt für Bands, die auf dem Weg nach Norden, Osten, Westen oder in den Süden waren. Im Juz Nagold und Umgebung spielte Dank der Konzertgruppe um Armin, Ute und Olga vieles, was damals Rang und Namen hatte. Meistens war es voll bis unter die Decke, manchmal spielten Bands aber auch nur vor einer handvoll Leuten, weil oben irgendetwas wichtiger oder man der Ansicht war, dass die sicher erst später spielen würden (wie bei Rorschach – ja, schon vorbei, war geil), aber meistens war es dann doch brechend voll. Wie fast überall in den ländlicheren Gegenden gab es hier dieses Ding zwischen Nietenpunks und Bandanaträgern nicht, es fand schlicht und ergreifend nicht statt. Lederjacke, Holzfällerhemd und Springerstiefel ließen sich sogar gut miteinander kombinieren, wenn es sein musste. So viele Menschen, so viele Leiber, so wenig Sauerstoff und die Erkenntnis, dass man es sich vorher besser zweimal überlegt, ob die Frisur wirklich sitzen muss, denn wenn einem die Seife oder was auch immer ins Auge läuft, weil man schwitzt wie ein Finne in der Sauna, ergibt die Bandana auf einmal einen Sinn. Der Unterschied zwischen Punk- und Hardcorekonzerten lag unter anderem in der Transpiration und in der Gewissheit, hier etwas mit anderen zu teilen, das 99,9% der Menschheit nie verstehen würde.
Von den vielen Konzerten, zu denen wir auch im tiefsten Winter bei ungeräumten Straßen fuhren, weil es dort fast immer gut war, sind mir vor allem mehrere italienische Bands, HOA, die Spermbirds, Fugazi, Flipper, die Walter 11 und ein Heimspiel der Skeezicks in Erinnerung geblieben.
Ebenfalls unvergessen bleibt auch das Ladenkonzert mit der Familie Pechsaftha und Atom & his Package.
Bei den Auftritten der Skeezicks, die ich erleben durfte, war eine Sache selbst für den verbohrtesten Schmock nicht zu übersehen: Hier war eine Crew, eine Family am Start, auf und vor der Bühne. Musikalisch gab es weitaus versiertere und härtere Bands, aber wenn ein mitgereister Mob, in einer riesigen, ziemlich leeren Halle (weil es draußen 30 Grad hatte, die Sonne schien und es in der Halle nochmal deutlich wärmer war) mit vielleicht 20 Leuten die Band mit Stagedive und irgendwann allen Leuten auf der Bühne feiert, dann spürt man, dass hier eine ganz besondere Verbindung besteht. Dass Armin seine musikalische Laufbahn als Bassist ultimativ damit beendete, dass er beim letzten Konzert seinen Bass in die Wand rammte, wo er stecken blieb, können alle bezeugen, die damals in Nagold dabei waren. Halbe Sachen oder ein Comeback kamen für ihn auch hier nicht in Frage. Ein Satz von ihm, der mich nachhaltig beeinflusst hat, war das Zitat „the only constant thing is change“, ohne Blick nach hinten, Wehmut oder Klagen.
Und so ist die Art und Weise, die Offenheit, mit der er nach der Diagnose mit seiner Erkrankung umging, zu 100% Armin. Nein, nicht jede:r kann das.
Wenn ein Attribut für Armin zutreffend ist, dann auf jeden Fall „early adopter“.
Stillstand und die Verwaltung eines Status Quo waren nie sein Ding. Wurde etwas massenkompatibel, zog er bereits weiter, weil da draußen noch hundert andere geile Bands unterwegs waren, vielleicht auch nur ein halbes Dutzend, aber die Suche würde sich auf jeden Fall lohnen.
Danke für alles und mehr.
- Karl-Heinz Stille -